Frankfurter Rundschau online, Dokument erstellt am 18.07.2003 um 17:08:01 Uhr
Erscheinungsdatum 19.07.2003
 
     
 

Grausamkeit und Melancholie
Von der Macht des Nachmachens: Chinesische Kunst aus 6 000 Jahren in Berlin
Von Ulrich Clewing

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Porträt des Kaisers Ning-tsung (Museum)

Zehn Jahre sind eine lange Zeit, wenn man eine Ausstellung vorbereitet. Und so konnte sich Wenzel Jacob, Leiter der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, einen Stoßseufzer der Erleichterung nicht verkneifen, als dann schließlich doch alles geklappt hatte mit dem großen Projekt. Denn etwas Vergleichbares hat es hier zu Lande noch nicht gegeben, und bis eine solche Gelegenheit wiederkommt, werden wohl noch viele Wellen an die Strände des Südchinesischen Meeres schlagen: eine Schau mit mehr als 350 Spitzenwerken fernöstlicher Kunst aus dem Nationalen Palastmuseum Taipeh. Dieses Museum ist nicht irgendein Museum und die Sammlung nicht irgendeine Sammlung: Es ist das Beste vom Besten, das die chinesische Kunstgeschichte zu bieten hat, die ehemals kaiserliche Sammlung, eine über unzählige Generationen hinweg aufgebaute und gepflegte Kollektion mit Gemälden, Handschriften und Kunstgewerbe aus der Zeit von 4000 vor Christus bis ins frühe 20. Jahrhundert.

Zehn Jahre mögen eine lange Zeit sein, um eine Ausstellung wie die Schätze der Himmelssöhne auf den Weg zu bringen, einerseits. Andererseits sind zehn Jahre nichts, zu kurz, um überhaupt wahrgenommen zu werden, ein Tropfen Wasser in einem Fluss, wie ihn der Künstler Tang Yin (1470-1524) in seinem 30 Zentimeter hohen, zwei Meter langen Rollgemälde Zitherspielender Gelehrter malte. Das Erste, woran man im Alten Museum auf der Berliner Museumsinsel erinnert wird, ist der Umstand, dass die chinesische Geschichte nicht in einzelne Regentschaften unterteilt ist, sondern in Herrscherdynastien. Da kommen knapp dreihundert Jahre schnell zusammen, wie in der Ming-Dynastie (1368-1644), in der Maler Tang Yin lebte und arbeitete. Und der große Atem der Zeit findet seine Entsprechung in den Dimensionen der Reiche, deren Kunstschätze hier präsentiert werden. Tausende von Kilometern sind quasi bloß einige wenige Schritte von der Provinzhauptstadt bis zur kaiserlichen Residenz, endlose Steppen und Gebirge nur die nähere Nachbarschaft.

Was zählen da schon ein paar Jahre? Und was zählt der Einzelne? Das Zweite, was man in dieser spektakulären Ausstellung lernen kann, ist die Macht des Nachmachens. "Nur Kunstvolles ist von Bedeutung", dieser dem Kaiser Kao-Tsung zugeschriebene Sinnspruch ist an der Wand des letzten Ausstellungsraumes zu lesen, wobei sich das Kunstvolle in dem Fall von Können ableitet. Über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg waren chinesischen Künstlern Kategorien wie Originalität oder Eigenständigkeit komplett fremd und unerwünscht. Im Gegenteil, die Maler, Bildschnitzer und Kalligrafen haben ihre Vorläufer scham- und gnadenlos kopiert und so einen Grad an Meisterschaft erlangt, der es mit den bedeutendsten künstlerischen Leistungen im Westen spielend aufnimmt - sieht man einmal davon ab, dass die westlichen und vorderasiatischen Kulturen Brüche und Übergänge zu verkraften hatten, sofern sie nicht ganz untergegangen sind, in China jedoch eine Kontinuität herrschte, in der sich während sechstausend Jahren das Kunstschaffen zur höchsten Vollendung entwickeln konnte.

Dieses Streben nach überzeitlicher Vollendung hatte auch noch andere Folgen. Die dritte Erkenntnis in dieser Schau lautet: Das chinesische Reich ist der Ort für die schönsten, ergreifendsten, grausamsten und melancholischsten Künstlermythen. Nirgendwo sonst findet man solche Geschichten und Erzählungen, und immer handeln sie von unvorstellbarer Hingabe, von Aufopferung und Katharsis. Zum Beispiel die des Dichters, Malers und Kalligrafen Hsü Wei (1521-1593), einem der herausragendsten chinesischen Künstler überhaupt, der sich sorgte, in einen Rechtsstreit seines Patrons hineingezogen zu werden, und am Ende vor Angst verrückt wurde.

Von den großen, das menschliche Maß übersteigenden Exerzitien erzählt auch das Schicksal von Chou Hsing-ssu (gestorben 521 n. Chr.), Hofdichter des Kaisers Wu-ti, der von 502 bis 549 regierte und Chou Hsing-ssu eines Tages den Auftrag erteilte, den so genannten 1000-Zeichen-Aufsatz des Meisters der kunstvollen Handschrift Wang Hsi-chih (303-379) zu kopieren, damit die Kinder des Kaisers die Kalligrafie erlernten. Der 1000-Zeichen-Aufsatz bestand aus eintausend verschiedenen Schriftzeichen, die nur leider keinen Sinn ergaben. Also bat der Kaiser seinen Hofdichter, daraus einen lesbaren Text zu machen. Der Legende nach brauchte Chou Hsing-ssu dazu nur eine einzige Nacht - als er am nächsten Morgen damit fertig war, war sein schwarzes Haar ergraut. Dafür wurde er unsterblich. Noch tausend Jahre danach lernten die chinesischen Kalligrafen ihre Kunst, indem sie seinen Text nachmalten. Im Alten Museum ist ein eindrucksvolles Exemplar von Chous Urschrift aus der Hand des Malers Weng Cheng-ming (1470-1559) zu sehen.

Die 350 Exponate der von der Kunst- und Ausstellungshalle in Bonn, den Berliner Staatlichen Museen und natürlich dem Nationalen Palastmuseum in Taipeh organisierten Ausstellung stammen aus allen Bereichen der Kunst und des Kunsthandwerks. Die Besucher bekommen großartige Tuschmalereien vorgeführt, exquisite alte Porzellane und faszinierende Jade- und Lackschnitzereien. Nicht immer lastet der Ernst großer Anstrengungen auf den Stücken. Manches ist auch einfach nur heiter und fast ein bisschen albern. In einer der Vitrinen etwa sieht man ein kleines, längliches Etwas mit gezackter Silhouette: Es ist ein Pinselhalter in Form eines Gebirges, aber handwerklich selbstverständlich ganz hervorragend gearbeitet.

Eine Meisterleistung für sich ist auch das Zustandekommen der Ausstellung. Um die Schätze der Himmelssöhne nach Deutschland schaffen zu können, waren diplomatische Anstrengungen nötig, deren Umfang nur zu ahnen sind. Immerhin handelt es sich bei Taiwan um ein Land, das von der Bundesrepublik offiziell nicht anerkannt wird. Noch in der Woche vor Eröffnung der Ausstellung in Berlin wurden in Taipeh Befürchtungen laut, China könne den Abtransport der Kunstwerke aus dem Taipehter Palastmuseum dazu nutzen, um unter Berufung auf das Völkerrecht die vor Jahrzehnten aus Peking ausgelagerten Konvolute auf juristischem Weg wieder in Besitz zu nehmen. Um dies zu verhindern, wurde vor fünf Jahren vom Deutschen Bundestag ein eigenes Kulturgutsicherungsgesetz erlassen, welches die sichere Rückkehr von ausgeliehenen Objekten garantieren soll. Trotzdem war die Angelegenheit auch den Museumsleuten in Taipeh bis zuletzt nicht ganz geheuer. Auf der Website des Palastmuseums wird extra noch einmal auf das deutsche Sondergesetz verwiesen, als berge die Unternehmung ein Risiko und hätte eine besondere Beschwörungsformel verdient. Auch das ist Kulturaustausch in Zeiten großer Politik.

http://www.fr-aktuell.de/ressorts/kultur_und_medien/feuilleton/?cnt=253272