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Subject: "Berlin-Tokyo/Tokyo-Berlin"
Date: Tue, 6 Jun 2006 21:33:01 +0200
From: TK
Berl Z
Bienenwaben und Kapselhotels
Ost-West-Moderne: die Ausstellung "Berlin-Tokyo/Tokyo-Berlin" in der
Neuen Nationalgalerie
Sebastian Preuss
Ein Japaner musste kommen, um die Neue Nationalgalerie erstmals zum
Schwingen zu bringen. Der Architekt Toyo Ito ließ seinen
Hightech-Futurismus in Tokio und baute eine Hügellandschaft aus Holz in
Mies van der Rohes strengen Glastempel, eine heiter blubbernde Bühne für
ein Metropolentreffen, das seit heute alle Räume des Museums zu einem
west-östlichen Diwan der Kunst werden lässt. Shintaro Miyake hat in
einen der Mini-Berge eine Wabe eingebaut, darüber baumelt ein bunter
Bienenglobus wie eine Discokugel; während der ersten Woche wird der
Künstler hier als Insekt verkleidet sein fröhliches Unwesen treiben.
Daneben hängen die flackernd-gleißenden Stadt-Impressionen von Daniel
Richter und Corinne Wasmuht, beides Exponenten des international so
erfolgreichen Neopop-Realismus aus Berlin. Natürlich darf auch Franz
Ackermanns abstrakte Stadtlandschaft nicht fehlen.
Yoshiaki Kaihatsu ist Wahlberliner, machte hier schon Furore mit einem
Teehaus aus Styropor und blieb diesem Material auch diesmal treu: Zwei
Scheiben der Glashalle strukturierte er mit Ornamentteilen aus dem Stoff
seiner Träume. Ein anderes Fenster verkleidete Sayake Akiyama mit einem
großen Stadtplan von Tokio, auf dem sie mit Bordüren Achsen zieht, die
man nicht so recht nachvollziehen kann. Konkretere Hinweise auf die
Realität der Megalopolis gibt Tsuyoshi Ozawa. Er baute in ein Hügelrund
eine Hybridarchitektur aus der Plastikeinheit eines der berüchtigten
Kapselhotels und der blauen Folie der Obdachlosen-Zelte, wie man sie
seit der Wirtschaftskrise auch in Japan allenthalben antrifft.
Tokio und Berlin haben zu einem künstlerischen Städtevergleich
zusammengefunden; und nach manch wohlfeiler Konfektionsware ist endlich
wieder einmal eine wirklich originelle, innovative Ausstellung in der
Nationalgalerie zu sehen. Die obere Halle des Mies-Baus gehört Toyo Ito
und den jungen Künstlern. Das eigentliche Erlebnis dieser Schau jedoch
ist der historische Rundgang im Untergeschoss, wo ein reiches,
faszinierendes Material ausgebreitet wird.
Die Geschichte von der Berlin-Tokioter Wahlverwandtschaft beginnt im
späten 19. Jahrhundert. Nach 200-jähriger Abschottung hatte der
Meji-Kaiser nach 1860 das Land wieder für Ausländer geöffnet. Mit Macht
modernisierte er das Land, wobei das Deutsche Kaiserreich zum
bevorzugten Vorbild für Justiz, Militär, Wissenschaft, Industrie und
Wirtschaft wurde. Aber während die europäischen Avantgarden von
Toulouse-Lautrec bis zu den "Brücke"-Malern begierig die Flächigkeit des
japanischen Farbholzschnitts aufgriffen, orientierten sich die
international gesinnten Künstler Tokios vor allem nach Paris.
Ein berühmtes Beispiel von "Yoga", der westlich orientierten Malerei -
im Gegensatz zu "Nihonga", der klassischen japanischen Kunst - durfte
nun erstmals das Land verlassen: Seiko Kurodas
flirrend-impressionistische Szene eines Mädchens in traditionellem
Kimono. Schräg gegenüber hängt Max Slevogts fein flackerndes, wie
durchglühtes Porträt der japanischen Tänzerin Sadu Yakko, die um 1900
das Berliner Publikum begeisterte. So ging es hin und her: Japonismus
und Exotismus hier, stilistische Weltoffenheit verbunden mit
traditionellen Bildinhalten dort.
Bis zum Ersten Weltkrieg hatten mehr als 600 Japaner die Berliner
Universität besucht, während in Tokio die deutschen Architekten Hermann
Ende und Wilhelm Böckmann das neue Regierungsviertel planten. Ein
ästhetisches Erdbeben löste 1914 eine Ausstellung von Herwarth Waldens
Expressionisten-Galerie "Der Sturm" aus, die Studenten aus Berlin nach
Tokio mitgebracht hatten. Kashio Onchi orientierte sich bald ebenso
innig an Franz Marcs verschlungenen Kompositionen wie zehn Jahre später
Kotaro Migishi an den absurden Collagen von Hannah Höch. Das geschah in
der Folge Tomoyoshi Murayamas, der 1923 die Mavo-Gruppe nach dem Muster
der Berliner Dada-Bewegung gegründet hatte.
So verfolgt die Ausstellung den Austausch durch das ganze 20.
Jahrhundert bis in die Gegenwart: Tokios Aufgriff der Bubikopf-Moderne
und des Bauhauses in den Zwanzigern; der Japan-Rausch des emigrierten
Architekten Bruno Taut; in Europa wie Fernost expressive Trauerbilder
nach dem Kriegstrauma und dann der Einfluss der abstrakten Malerei aus
Paris und New York; zudem in beiden Städten ein poetischer Realismus in
einer Ruinenfotografie, die in Japan fast noch schrecklichere
Verwüstungen zeigt als in Deutschland. In der Nachkriegszeit geht es
weniger um ganze Strömungen, sondern eher um einzelne Künstler, bei
denen Gastaufenthalte in Tokio oder Berlin Spuren hinterließen. Parallel
verlief vor allem in den Fünfzigern und Sechzigern die subjektive
Autorenfotografie sowie die Fluxus- und Neo-Dada-Bewegung.
Unter solchen Schlaglichtern erhellt sich die hundertjährige
Kunstgeschichte zweier Städte, die nicht durchweg, aber doch immer
wieder aufeinander schauten. Den Schlusspunkt bilden eine
Manga-Bibliothek und jüngste Beispiele dafür, wie in Tokio unter dem
Siegel von Neo-Pop, Kitsch oder Comic heute die traditionelle Malerei
und Gegenwartskunst - also "Nihonga" und "Yoga" - wieder zusammenfinden.
Noch gibt es darauf keine Berliner Antwort.
Berliner Zeitung, 07.06.2006
http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/feuilleton/556507.html
(snip)
with kind regards,
Matthias Arnold (Art-Eastasia list)
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