Die China-Vernetzung VON MIRJA ROSENAU [image] Andenken (MMK) Das neue Credo lautet: "ungestellt". Ungestellt sollen die Fotografien sein, anhand derer sich das neue China seiner selbst vergewissert. Gegen das Erbe der maoistischen Propaganda wird ein neuer Glaube ans Dokumentarische gestellt: "Authentisch" und "originalgetreu" wollen die Bilder sein, mit deren Hilfe Wang Huangsheng, Direktor des Guangdong Museum of Art, "ein Bild des chinesischen Volkes im Sinne der anthropologischen Fotografie" zu erzeugen hofft. Die Ausstellung "Humanism in China", von drei chinesischen Fotografen 2003 für sein Museum kuratiert, setzt dem Projekt einen ersten Meilenstein: Sie versammelt rund 600 Fotografien von 250 chinesischen professionellen und Amateur-Fotografen aus über 50 Jahren, hauptsächlich aber aus der nach-maoistischen Zeit nach 1978. Ein "unerwartet selbstbestimmt selbstkritischer Blick", fanden fünf Direktoren bedeutender deutscher Museen, die während einer gemeinsamen Chinareise beschlossen, das Ganze nach Deutschland zu holen. Eine nie da gewesene Ansicht der "Innenseite eines kulturellen Umbruchs" eröffne "Humanism in China", ist man im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt überzeugt, wo die Ausstellung nun ihre erste deutsche Station hat. Gezeigt wird das Leben einfacher, überwiegend auf dem Land lebender Menschen: Geschichtenerzähler, Winterschwimmer, Kampfhahnbesitzer, Diabolospieler. Sie stellt traditionelle gegen moderne Sportarten, Kosmetikverfahren und Hochzeitszeremonien. Sie zeigt Latrinen, Arme und Kranke, Hausierer und frisch gebackene Väter, thematisiert Bevölkerungswachstum und Umweltverschmutzung, Arbeitslosigkeit, Drogenmissbrauch und Wohnungsnot, sogar ein Foto zur Todesstrafe kommt vor. Ein Mann auf dem Tiananmenplatz "Humanism in China" dokumentiert tatsächlich eine Gesellschaft im Wandel: zwischen Totalitarismus und Liberalisierung, Traditionspflege und Moderne - in einem Bildcluster, das "das Zeug hat, historisch zu werden", wie der MMK-Direktor findet. Als solches hat es die chinesischen Ministerien passiert - lediglich 17 Bilder fielen der Zensur zum Opfer. Es ist "ein offizieller chinesischer Beitrag", sagt Udo Kittelmann, der es nun als "Ausstellungsdokument", eins zu eins aus China übernommen, "unkommentiert und ohne zu werten" in Frankfurt zur freien Anschauung bringt: "Wir stellen die Ausstellung zur Diskussion." Auch der Begriff des Ready-Made fällt. So wird mit "Humanism in China" im MMK ein Projekt fortgesetzt, dessen Interesse dem Museum als einem Wert- (und Kunstwerk-)Erzeugungsfilter gilt, der einmal aufgenommene Objekte künstlich auflädt, wie zuletzt mit der "Ebay-Vernetzung" thematisiert, die aus dem Internet bezogene Dinge erst in die eigenen Räume, dann auf den Kunstmarkt überführte. Man mag das aus China importierte "Ausstellungsdokument" nicht gleich als Kunstwerk sehen, nur weil ein Museumsdirektor es mit Rückendeckung durch Beuys und Duchamp in sein Museum stellt. Auch ein Wertsteigerungsbegehren will man nicht unterstellen. Die Überführung des chinesischen Dokuments in ein westliches Kunstmuseum dürfte sich schließlich auf einer anderen Ebene als profitabel erweisen. Indem es hier die (zumindest theoretische) Neutralität des Kunstraums beansprucht, fordert es die Anwendung eines diskursiven Instrumentariums heraus - woraus beide Seiten (die Chinesen, wir) etwas lernen könnten. Bildanalytischen, medientheoretischen, auch kunstwissenschaftlichen Lesetechniken gegenüber stellt sich das Dokument schließlich nicht nur als soziopolitische Symptomatik, sondern vor allem als eine zu entschlüsselnde Symbolpolitik und Rhetorik dar. Die in diesem Fall vieles zeigt und sagt. Aber vieles und Wesentliches eben gerade auch nicht. Die unsagbar viel mitführt, deren Bugwelle aber auch eine Menge verdrängt. Was also wird gezeigt? Unter anderem ein Mann auf dem Tiananmenplatz, der ein Foto seiner toten Frau in die Kamera hält. Es handelt sich um einen alten Pilger, der sich, wie die Bildunterschrift informiert, "den gemeinsamen Traum einer Reise nach Beijing" erfüllt, das Bild ist 2003 entstanden. Gezeigt werden Bauern, die Blut verkaufen: "Einige Bauern leben von der Blutspende" (1998), erklärt hier der Bildtext. Gezeigt wird Mao als Pappfigur und als Lücke in einer Mauer ("Ein alter Mann hockt in dem ehemals für ein Bildnis Mao Zedongs bestimmten Rahmen", 1987). Gezeigt werden nicht: Panzer auf dem Tiananmenplatz oder Dokumente der Aidsdörfer, die aus einer fahrlässig gehandhabten Blutspendepraxis und versäumten Aufklärungspolitik hervorgegangen sind. Gezeigt werden weder die direkten Opfer noch die Täter des maoistischen Terrors, keine Bilder öffentlicher Hinrichtungen und Demütigungen, der zum Ornament orchestrierten Massen. Gezeigt wird vieles, auch angedeutet - mindestens ebenso mächtig wie die Masse der 600 Bilder aber sind die Leerstellen und das Schweigen, das die gewaltigen Lücken füllt. Gezeigt werden keine versehrten politischen Dissidenten. Gezeigt aber wird ein "Im Krieg an beiden Beinen und Armen verstümmelter Schriftsteller" (1996), unauffällig zwischen Bildern kranker und körperbehinderter Menschen platziert. Dass "Humanism in China" eine von einem unabhängigen Kuratorium und keinem Parteikomitee zusammengestellte Ausstellung ist, betonen beide Seiten - das chinesische Kuratorenteam wie der deutsche Direktor, der dessen "clevere Methode der Zusammenführung" lobt - ebenso entschieden wie das Diktum vom ungestellten Einzelbild, in klarer Ablehnung einer über Bilder ausgetragenen Propaganda. Dass aber gerade die Montage ein beliebtes und mächtiges Propagandamittel ist, wird hier entweder zufällig nicht mitreflektiert oder lieber unterschlagen. Alte Ideologien durch neue ersetzt Und montiert wurde einiges: durch Kittelmann und das MMK, die bedeutungsgenerierend und nun doch kommentierend Werke der Sammlung rund um das importierte Ready-Made kombinieren (von Gerhard Richters verschwommenem Mao zu Beuys' Rose für direkte Demokratie). Montiert wurden in "Humanism in China" Bilder zu Bildern, Bilder zu Themenkreisen ("Existenz", "Beziehung", "Begehren", "Zeit" heißen, universal gehalten, die Ausstellungskapitel) und Bilder zu oft wertenden Bildunterschriften. Nicht zuletzt hat das chinesische Kuratorium dem Ganzen einen wuchtigen Ausstellungstitel verpasst, der den chinesischen "Humanisierungs- und Individualisierungsprozess" an jenes eingangs zitierte Interesse der Dokumentarfotografen knüpft, ein "authentisches", "originalgetreues" und darum doch wohl möglichst neutrales "Bild des chinesischen Volkes im Sinne der anthropologischen Fotografie" zu erzeugen. Die Kuratoren konnten es sich aber dann doch nicht verkneifen, in ihrem kurzen Vorwort unter anderem gegen jede "Grellheit, Geldverehrung und Götzenanbetung" zu wettern, denen sie "chinesische Szenen, Bilder und Sprache" entgegen zu stellen gedenken. So werden alte Ideologien durch neue ersetzt, und ein Gefüge aus 600 Fotos erscheint einem doch nur wieder als Rhetorik. Paradoxe Pointe: Gerade in dieser Hinsicht ist es, mit allem sichtbar Gemachten und unsichtbar Mitgeführten, als Anschauungsgegenstand unschätzbar dankbar und reich. Museum für Moderne Kunst Frankfurt, bis 27. August. Weitere Stationen sind München, Stuttgart, Dresden und Berlin. Der Katalog (Edition Braus im Wachter Verlag) kostet 35 Euro. www.mmk-frankfurt.de
with kind regards,
Matthias Arnold (Art-Eastasia list)
http://www.chinaresource.org http://www.fluktor.de
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