November 28, 2005: [achtung! kunst] Stipendienprojekt "Beijing Case" |
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Die Fabrik im Nordosten Pekings ist von Deutschen gebaut worden; Architekten aus der DDR errichteten sie 1953 zur Rüstungsproduktion von Elektronikbestandteilen mit dem konkret poetischen Namen "798". Die sozialistische Freundschaft zerbrach, mit der Fabrik ging es bergab, statt dessen zogen seit Mitte der neunziger Jahre immer mehr Galeristen, Maler und Kneipiers in die mit maoistischen Schriftzeichen verzierten Gemäuer. Die weiträumige Anlage ist ein authentisches "Künstlerviertel" mit, wie man hört, guten Verkaufserfolgen geworden. Und jetzt sind die Deutschen zurück. Statt militärisch-industrieller Blaupausen haben sie Video-Installationen in die weißgestrichene hohe Halle namens "Zero Field" mitgebracht: Die Bundeskulturstiftung und das Goethe-Institut präsentieren den Pekingern ein Projekt, bei dem sie, die Pekinger, erforscht werden. Zehn Künstler, Schriftsteller, Dokumentarfilmer und Choreographen wurden mit einem Arbeitsstipendium für vier Monate in der chinesischen Hauptstadt ausgesetzt - ein Experiment, um das sagenhafte neue China einmal nicht mit Wachstumszahlen oder Parteianalysen, sondern mit einem Sensorium zu untersuchen, wie es das westliche Kunstsystem zur Verfügung stellt. Sieht man da vielleicht etwas anderes als mit dem üblichen Medienblick? Die meisten Arbeiten des Projekts "Beijing Case" waren erfreulich konkret. Die Berliner Choreographin Mara Kurotschka hatte nach der Ankunft den ursprünglichen Plan aufgegeben, "das Verhältnis von Körperbewegung und Stadtraum" zu untersuchen. Statt dessen produzierte sie unter dem Titel "Beijing moves" einen Film, der in mehreren Kapiteln einfach verschiedene Körperhaltungen vorführt: unterschiedliche Typen des Schlurfens, Schlafens, Sitzens, Hockens, Tanzens, die sie bei ihren Streifzügen durch Peking vorgefunden hatte. Man entdeckt da, daß die Stadt weit mehr Inseln der Gemächlichkeit und Kontemplation hat, als es die Rede von der "High-Speed-Urbanisierung" wahrhaben will. Und man ist angerührt von einem alle abstrakten Codierungen überspringenden Sinn fürs menschliche Detail, über dessen zahlreiche komische Effekte Chinesen und Deutsche gleichermaßen lachen konnten. Der Schriftsteller Ingo Niermann hat eine Zeitschrift namens "Eins" herausgegeben, die vier seiner in Peking mit Künstlern, Funktionären und Wissenschaftlern geführten Interviews versammelt. Über den sachlichen Ertrag dieser Gespräche hinaus bekommt der Leser eine Fülle bezeichnender Redeweisen und Perspektiven vorgeführt. Statt der im Westen obligaten Kongreßformel "Wir dürfen nicht alles machen, was wir können", sagt da etwa ein Meteorologe, der sich auf die künstliche Herstellung von Regen spezialisiert hat: "Nicht alles, was wir machen wollen, können wir auch machen." Und die zweiundzwanzig Jahre alte Pop-Autorin Chun Sue, die sich im Sex-Pistols-Hemd fotografieren läßt, sagt nach einem Überblick über ihre abgründigen Stoffe: "Die Kühle nimmt mit dem Alter zu", um im nächsten Augenblick zu bekennen, daß sie sich "glücklich und stolz" fühlt, wenn sie das alte Revolutionslied "Ich bin Soldat" hört. Und dazu die vollmundigen Durchhalteparolen zweier lange schon in Peking lebender Ausländer, die sich "in diesem Augenblick der menschlichen Geschichte keinen besseren Ort zum Leben" vorstellen können. Die Künstler Christine de la Garenne und Via Lewandowsky präsentieren hundertzwanzig Fotos von eigenartigen Objekten, die sie an den hundertzwanzig Tagen ihres Aufenthalts vorgefunden haben: eingepackte Ventilatoren, das Röntgenbild eines künstlich verlängerten Frauenbeins, eine Arena für Kampfgrillen. Einige der Fotos sind nicht frei vom exotischen Blick aufs Kuriose, doch viele andere verwandeln ihre Gegenstände und die ganze Stadt zu einem poetischen Gebilde, das für sich steht. Das Werk wird erst komplett mit den dazugehörigen Texten sein, die nächstes Jahr in einem Buch und in der Ausstellung des gesamten Projekts im ZKM in Karlsruhe (27. Mai bis 8. Juli 2006) zu sehen sein werden. Das gilt erst recht für zwei chinesische Arbeiten, von denen in Peking nur Steinbrüche zu begutachten waren. Das Künstlerpaar Cao Fei und Ou Ning aus Kanton führte Filmmaterial von seinem "Dazhalan-Projekt" vor, bei dem sie zusammen mit Freiwilligen und Bewohnern die Verarmung und Verwahrlosung eines armen Viertels südlich vom Tiananmen-Platz dokumentieren. Noch weniger, nämlich nur einige Fotos, war vorerst von der Recherche des Pekinger Dichters Xi Chuan zu sehen, der untersucht hat, wie verschiedene religiöse Stätten in Peking ihre unmittelbare Nachbarschaft verändern. Der Beitrag, der am meisten den üblichen westlichen Blick auf China zu reproduzieren schien, stammte erstaunlicherweise von einer Chinesin, allerdings von einer, die schon seit Jahren in Berlin lebt. Ma Yinglis Dokumentarfilm führt durch den Tag eines älteren Ehepaars, das sein altes Hofhaus in der Mitte Pekings verlassen mußte und heute weit draußen in einem Hochhaus an der Peripherie lebt. Der interviewte Mann nahm die Sache philosophisch - "an Dinge, die man nicht ändern kann", sagte er, "muß man sich anpassen" -, doch über der gesamten Darstellung seines Lebens im reinlichen Neubauland lag eine ästhetische Trauer, wie sie in China selbst sonst nicht üblich ist. So steckte in der "Peking-Kiste" noch mehr als bloß die einzelnen Arbeiten: ein Aufeinandertreffen zweier verschiedener Kunstsysteme. Bei der Präsentation der Ergebnisse im "798" standen zwar chinesische und deutsche Künstler mit dem Sektglas beieinander, und danach ging man noch, wie das international üblich ist, in ein anheimelnd beleuchtetes Hofhaus in der Bargegend am Houhai-See. Doch diese äußerliche Eintracht im Geiste des globalen Kunstmilieus konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß es etwas sehr Unterschiedliches bedeutet, in Deutschland oder in China Künstler zu sein. Auf der einen Seite steht der wohlorganisierte deutsche Betrieb, in dem alle wichtigen Dinge eindeutig geregelt sind: die Institutionen, die Öffentlichkeit, die Medien, die Codierungen und die Aufgabenzuweisung an den Künstler selbst. Auf der anderen Seite das chinesische Gefüge, bei dem so ziemlich alles ungewiß ist: die Finanzierung, die Öffentlichkeit, die Reaktion des Staates, die eigene Rolle. Ingo Niermann stellte bei seinen Interviews daher eine fast spiegelverkehrte Situation zu seinem früheren Buch "Minusvisionen" fest. Während es dort den "Künstlern", die sich eindeutig als solche verstehen, schwerfiel, in ihren wirtschaftlichen Projekten etwas zustande zu bringen, sind in China selbst Underground-Künstler und -Regisseure irritierend geübt im Geldverdienen, etwa indem sie Unterhaltungsserien fürs staatliche Fernsehen schreiben. Die Grenze zwischen Künstlern und anderswie Tätigen scheint nicht so scharf gezogen zu sein. In einer solchen Lage wirkt die Frage, worin eigentlich die Grundstoffe einer Gesellschaft bestehen und welche Rolle die Kunst dabei spielt, wie neu. Es lauern also noch zahlreiche Folgeprojekte, die nur scheinbar in die Ferne schweifen. Im Vergleich kann sich eine Kultur wie die deutsche, die durch die wirtschaftliche Stagnation des Landes auf Dauer nicht unberührt bleiben wird, vielleicht am besten erkennen. Man guckt auf Peking und sieht sich selbst. MARK SIEMONS Kastentext: Mit Geld der Bundeskulturstiftung: Die Deutschen haben Video-Installationen in die weißgestrichene hohe Halle namens "Zero Field" mitgebracht. Sie präsentieren den Pekingern ein Projekt, das sie, die Pekinger, erforscht. http://business-archiv.faz.net/intranet/biblio/webcgi?START=A20&DOKM=1121709_FAZ_0&WID=91273-2310195-73200_2
In China vollzieht sich ein atemberaubender ökonomischer und Folgende Künstler/innen leben und arbeiten zurzeit in Peking: die Film- und Videokünstlerin Heike Baranowsky, den bildenden Die Ergebnisse des Stipendienprogramms werden im Frühjahr 2006 im Beijing Case ist nach Caracas Case das zweite Stipendienprogramm zur http://www.kulturstiftung-des-bundes.de/main.jsp?articleID=475&applicationID=203&languageID=1
+++++++++++++++ Informal City? Städte haben einen eigenen Rhythmus. Eine Dynamik, die vor allem ihre http://www.beijingcase.org/bjcase_ger/curator_ger.html
__________________ with kind regards, Matthias Arnold
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