March 7, 2003:
architektur 101: der turmbau von taipeh
 
     
 

der spiegel - 1.3.2003; ARCHITEKTUR

Der Turmbau von Taipeh

In Taiwan entsteht das höchste Haus der Welt - der erste Rekordbau nach dem
Einsturz des World Trade Center. Kaum ein Ort ist dafür schlechter geeignet:
Häufige Taifune und Erdbeben zwingen die Erbauer zu technischen
Spitzenleistungen.

Sollte wieder mal ein Wirbelsturm aufziehen, empfiehlt sich eine Fahrt
hinauf in die 88. Etage. Mit dem schnellsten Aufzug der Welt dauert das kaum
40 Sekunden. Dort droben, im Restaurant, hat man einen prachtvollen
Tiefblick auf die Straßen von Taipeh - während an der Bar schon die Gläser
klirren und der Taifun immer wütender um den Turm orgelt.
Aber das wahre Schauspiel bietet sich mitten im Saal: Dort hängt eine
riesige goldene Kugel, die nun vor aller Augen sehr gemächlich zu pendeln
beginnt.

Das ist nicht etwa ein Kunstwerk. Ohne die Kugel würde der Wolkenkratzer
früher oder später einstürzen. Sie hält ihn im Lot. Wenn der Sturm das
stolze Bauwerk packt und beutelt, schwingt die Kugel im Gegentakt. So
verhindert sie, dass der Turm übermäßig ins Schwanken gerät und der
Châteauneuf-du-Pape aus den Gläsern schwappt.
[image] DPA: Hochhaus "Taipei 101" nach Erdbeben: Stahlteile durchschlugen
Betondecken und zerschmetterten geparkte Autos


Wahrlich eine kühne Idee, solch ein Pendel frei sichtbar aufzuhängen. Die
Maßnahme soll den Gästen Vertrauen in die Gebäudetechnik einflößen. Sicher
ist: Es gibt keine stilvollere Art, einem Wirbelsturm beizuwohnen.

Vom nächsten Jahr an ist das Erlebnis möglich. Dann hängt die Kugel in der
Gipfelregion eines himmelhohen Büroturms, der gerade in Taipeh, der
Hauptstadt der Inselrepublik Taiwan, emporwächst. Kurz bevor das Bauwerk
fertig ist, wird das goldene Riesenpendel an acht Stahltrossen in der 92.
Etage aufgeknüpft. Die Kugel ist innen aus Stahl und wiegt 730 Tonnen (etwa
so viel wie sechs schwere Diesellokomotiven). Dieser Apparat ist der
weltgrößte Schwingungsdämpfer seiner Art.

Es stand ja auch noch nie ein so hohes Haus an so widrigem Ort. Taiwan wird
häufig von Naturkatastrophen heimgesucht. Die Einwohner sind gewöhnt an etwa
drei Taifune im Jahr, die mit bis zu 250 Stundenkilometern über die Insel
fegen, sowie an ein Dutzend größerer Erdbeben, die am Turm dann noch
heftiger rütteln als das Sturmgebraus.

Für den Fall, dass die Erde bebt, stehen rings um die Kugel acht Puffer
bereit, die ihren Ausschlag begrenzen. Sonst könnte das Pendel außer
Kontrolle geraten und wie eine Abrissbirne gegen die Wände krachen.

Kleinere Erdbeben, die meisten kaum zu bemerken, gibt es auf Taiwan fast
alle Tage. Die Insel liegt am Rand der Eurasischen Kontinentalplatte, wo
gewaltige Schollen aneinander schaben. Nur 200 Meter vom Gebäude entfernt
verläuft eine bekannte Bruchlinie der Erdkruste: die Taipeh-Verwerfung.
Geologen versichern aber, gerade hier habe sich seit 45.000 Jahren nichts
mehr geregt.

Es genügt freilich, wenn im weiteren Umkreis der Erdboden wackelt. Das
zeigte sich besonders heftig am 31. März vergangenen Jahres. Das Hochhaus
hatte damals gut die Hälfte seiner geplanten Höhe erreicht. Vier Kräne
standen auf der obersten Plattform im 56. Stockwerk, allesamt mächtige
Geräte - allein das Trageseil von 760 Meter Länge, an dem die Lasten hängen,
wiegt neun Tonnen.
[image] Computermontage: Eine goldene Kugel, schwer wie sechs
Diesellokomotiven, verhindert, dass der Châteauneuf-du-Pape aus den Gläsern
schwappt

Die vier Kranführer kurbelten wie üblich schwere Stahlträger aus der Tiefe
empor, als der Turm jäh unter ihnen zu schwanken begann. Die Erdstöße kamen
heftiger als üblich. Plötzlich riss sich knarzend und krachend der erste
Kran aus der Halterung, knickte um und stürzte langsam über den Rand des
Baus in den Abgrund, der zweite Kran hinterdrein.

Unten liefen Arbeiter und Passanten um ihr Leben. Stahlteile durchschlugen
Betondecken und zerschmetterten geparkte Autos. Fünf Menschen starben,
darunter die beiden Kranführer.

Als die Staubwolken sich gesenkt hatten, sah man in der Höhe, neben
zerbeulten Trägern, die zwei anderen Kräne stehen. Sie hatten das Beben
überstanden.

Der Führer des einen Krans verließ die Baustelle und kam nie wieder. Der
andere arbeitet heute wieder in seiner Kanzel. Der Bau ist inzwischen bis
zum 82. Stock emporgewachsen.

Alle sechseinhalb Tage kommt eine weitere Ebene hinzu, bis schließlich die
101. Etage erreicht ist. Am Ende werden es 508 Meter vom Erdgeschoss bis zur
Spitze sein. Damit ist dieses Hochhaus, genannt "Taipei 101", das höchste
der Welt.

Aber warum muss es ausgerechnet an diesem Ort stehen?

Niemand dachte an Höhenrekorde, beteuert der Baumagnat Hong-Ming Lin, Chef
der Betreibergesellschaft. Das Gebäude hätte zunächst viel bescheidener
ausfallen sollen. Auf den ersten Plänen ist noch ein mittelhoher
Wolkenkratzer zu sehen mit 66 Etagen. Aber dann sei der damalige
Bürgermeister von Taipeh gekommen, der heutige Inselpräsident Chen Shuibian.
"Er schaute sich unsere Entwürfe an, und dann sagte er: Könnt ihr es nicht
höher machen?"

So kam es, dass der nächste Entwurf 77 Etagen hatte, der übernächste 88 -
und noch immer war der Bürgermeister nicht zufrieden: "Könnt ihr es nicht
höher machen?"

Der Bauunternehmer Lin hat damals verstanden, dass es ums Ganze geht. Taiwan
will nicht mehr als die Insel gelten, wo die billigen Taschenrechner
herkommen und die piepsenden Glückwunschkarten. Diese Zeit ist vorbei. Heute
produziert das kleine Land, halb so groß wie Bayern, mehr als die Hälfte der
Notebook-Computer, die weltweit verkauft werden; Firmen wie Dell und Compaq
lassen ihre Geräte großteils hier fertigen. Diesen Aufschwung soll die Welt
mal zur Kenntnis nehmen - allen voran die Festland-Chinesen, die Erzrivalen
drüben am anderen Ufer, wo die Metropolen Hongkong und Shanghai mit immer
neuen Bürotürmen auftrumpfen.

Taipei 101 ist, wie es scheint, die Ausgeburt allerhöchster Ambitionen.
Dafür ist der Bau ziemlich elegant geraten. Das Architektenbüro C. Y. Lee
hat ihn als abstrakte Pagodengestalt entworfen, die sehr licht, fast
durchscheinend, in acht Stufen gen Himmel strebt. Nichts verrät von außen,
wie teuer der unmögliche Standort bezahlt ist. Der tempelhafte Turm muss den
Naturgewalten standhalten wie eine Festung: Er stützt sich auf einen
mächtigen, vielfach verstrebten Kern, durch den auch die Aufzüge und
Steigleitungen laufen. An den Außenseiten stehen acht gewaltige
Stahlpfeiler, je zweieinhalb mal drei Meter dick und voll gepumpt mit
Spezialbeton.

In jeder achten Etage sind ringsum mächtige Querstreben eingezogen, die den
Kern mit den Säulen zu einem Trageskelett verbinden. Diese Streben füllen je
ein ganzes Stockwerk nahezu aus. Insgesamt elf Etagen werden allein für
Fluchträume, Wassertanks und Versorgungstechnik verbraucht; für Büros, die
Geld einbringen, ist da kein Platz mehr.

Dafür sollte der Turm, derart armiert, aber auch den Einschlag eines
Flugzeugs aushalten, versprechen die Bauherren. "Er würde sicher länger
stehen bleiben als das World Trade Center in New York", sagt Chung Ping
Wang, der verantwortliche Architekt von der Firma C. Y. Lee. "Aber wir
hoffen, dass wir weniger Feinde haben."

Die Natur ist feindselig genug. "Man findet so schwierige Bedingungen
nirgends sonst auf der Welt", sagt der Statiker Shaw Shieh, der für die
Stabilität des Turms zuständig ist. Das scheint ihn nicht sonderlich zu
bedrücken: "Ich glaube, so ein Projekt ist der Traum jedes Ingenieurs."

In New York wäre ein solcher Bau keine Kunst; dort kann jeder hoch hinaus.
In Taipeh dagegen blieb den Rekordjägern wirklich keine Herausforderung
versagt: Selbst der Boden ist denkbar schlecht.

Vor wenigen Jahren buckelten hier noch Bauern in ihren Reisfeldern, und
Wasserbüffel zogen durchs sumpfige Schwemmland. Als die Ingenieure den
Untergrund erforschten, stießen sie stellenweise erst in 60 Meter Tiefe auf
soliden Fels. Das Hochhaus ruht deshalb nun wie ein Pfahlbau auf 550
Pfeilern. Manche mussten bis zu 80 Meter in die Tiefe getrieben werden.

Nun aber fühlen die Baumeister sich für alle Schrecken gerüstet, das nächste
Jahrhundertbeben inbegriffen: "Ich möchte wetten, unser Haus wäre das letzte
in ganz Taipeh, das umfällt", sagt der Architekt Wang.

Die Baustelle liegt im Zentrum eines nagelneuen Finanzbezirks, der gerade
auf dem altem Bauernland emporgezaubert wird. In der Nachbarschaft stehen
bereits Edelkaufhäuser und Bankenpaläste. Gleich gegenüber warten prunkvolle
Appartement-Blöcke auf die ersten Mieter - ringsum hohe Gitter, das Portal
flankiert von vier polierten Wächterhäuschen, aus denen Kristalllüster
blinken. Fotografieren streng verboten. Alles ist hier gerichtet für den
Einzug des großen Geldes, das bekanntlich scheu ist.

Die Bauherren von Taipei 101 wollen vor allem die erste Liga des globalen
Finanzkapitals in ihren Rekordturm locken: Banken, Fonds, Versicherungen.
Die Branche lebt schließlich vom Eindruckmachen. Die Börse von Taipeh hat
sich schon ein paar Etagen reserviert; sie gehört selbst zu der Gruppe
einheimischer Investoren, die das Hochhaus bauen lässt. Geschätzte Kosten:
umgerechnet gut anderthalb Milliarden Euro.

Nach dem Einsturz des World Trade Center in New York sank den Planern
allerdings der Mut zum Herausragen. Sie erwogen, ihr halb fertiges Bauwerk
kleiner zu belassen, unauffälliger. Der nächste schwache Moment kam nach dem
März-Beben, als die Kräne vom Dach gefallen waren. Aber jedes Mal rafften
sich die Zweifler wieder auf: Der Turm sei schließlich so sicher, wie er nur
sein könne. Und so gingen die Bauarbeiten wieder voran.

1800 Arbeiter bevölkern die Baustelle; bald werden es 3000 sein. Tag und
Nacht schweißen sie neue Träger an das Stahlskelett, pumpen Beton in die
Röhren und hängen Fassadenteile ein ums Tragegerüst herum.

Ein Erdbeben hin und wieder gehört zum Arbeitsalltag, aber manche gewöhnen
sich schwer daran. "Das fährt einem schon in die Glieder", sagt der
Ingenieur Stephan Eberle, ein Abgesandter der Firma Gartner aus dem
schwäbischen Gundelfingen, die den Turm mit seiner gläsernen Fassade
versieht. Und erst der Wind. Selbst an ruhigen Tagen pfeift er schauerlich
durchs Stahlgerippe, das in den oberen Etagen noch unverkleidet ist. Die
Fassadenplatten sind auf einen Winddruck von 1,35 Tonnen pro Quadratmeter
ausgelegt - mehr als das Anderthalbfache des üblichen Maximums.

Wenn das Gebäude erst fertig ist, sollten die Bewohner vom Wüten der
Elemente nicht mehr allzu viel mitbekommen. Dann müssen sich nur noch
genügend zahlungsfrohe Mieter einfinden. Die Bauherren verbreiten tapfer
Zuversicht. Auch das Kranunglück hatte ja, wie der Statiker Shieh
versichert, nichts mit der Stabilität des Baus zu tun. Dennoch ist allen
klar, dass in Häusern dieser Höhe nicht nur zählt, ob sie stehen bleiben
oder nicht. Die Frage lautet: Wer will in einem Turm arbeiten, der so
wackelt, dass die Kräne vom Dach fallen?

Seit dem Anschlag vom 11. September geht ohnehin weltweit eine gewisse
Höhenangst um. Die Himmelsstürmer von Taipeh können leicht sagen, diese
Angst sei irrational. Aber der Wille, ein extrem hohes Haus zu bauen, ist es
vielleicht ebenfalls.

Die höchsten Wolkenkratzer sind an sich schon gebrechliche Gebilde. Sie
sehen nur aus wie Monumente, die nichts umwirft. In Wahrheit macht ihr
Riesenwuchs heikle Probleme. Selbst in friedlichen Gegenden sind aufwendige
Stützapparate nötig, damit die Kolosse überhaupt stehen bleiben.
[image] DER SPIEGEL: Aufragende Giganten: Eine Auswahl der weltweit höchsten
Wolkenkratzer

Weit verbreitet sind inzwischen Schwingungsdämpfer nach Art der goldenen
Riesenkugel. Es gibt sie in vielerlei Gestalt. In manchen Bürotürmen sind
hoch droben trickreich geformte Tanks verborgen, in denen Hunderttausende
Liter Wasser geruhsam im Gegentakt schwappen. Anderswo messen Sensoren jede
Regung des Baus, und Computer schieben tonnenschwere Betonblöcke auf
Schienen hin und her, um dem gefährlichen Schwanken entgegenzusteuern.

"Praktisch alle Gebäude, die höher sind als 70 oder 80 Etagen, haben heute
solche Dämpfer", sagt Architekt Wang. Die teure Technik schlägt auf die
Kosten, aber das ist nur ein Teil des Problems: "Allzu hohe Häuser sind
einfach nicht mehr effizient."

Ein Hochhaus bietet zwar viel Raum auf kleiner Grundfläche, aber mit
zunehmender Höhe nimmt der Nutzen rasch wieder ab. Denn je höher die Gebäude
wachsen, desto mehr Menschen und Material gilt es hinaufzubefördern. Das
heißt: mehr Aufzugsschächte, mehr Treppenhäuser, mehr Steigleitungen.

Am kniffligsten ist es, all die nötigen Aufzüge unterzubringen. Sie haben
den Nahverkehr einer Kleinstadt zu bewältigen: schätzungsweise 10.000
Menschen im Taipei 101, Besucher nicht gerechnet. 63 Aufzüge sausen hier
später auf und ab, gut die Hälfte als Doppeldecker mit zwei Kabinen
übereinander - das erspart den Platz für zusätzliche Schächte.

Aus demselben Grund bedienen fast alle Aufzüge nur je einen Teil der
Strecke. Wer etwa in den 78. Stock will, steigt in den Express-Aufzug zum
zweiten Umsteigebahnhof auf Ebene 60; von dort bringt ihn eine Lokalkabine
ans Ziel.
[image] DER SPIEGEL: Lage des Hochhauses am Rand der Eurasischen
Kontinentalplatte: Aneinander schabende Schollen

Nur drei Schächte führen direkt nach oben zum Restaurant und Aussichtsdeck.
Darin rasen windschnittig geformte Kapseln wie Projektile mit 1000 Metern
pro Minute aufwärts - das ist Weltrekord. Damit den Passagieren nicht das
Trommelfell platzt, sind die Aufzüge wie Flugzeugkabinen luftdicht
versiegelt; der Binnendruck wird künstlich konstant gehalten.

So lassen sich die Menschenmassen einigermaßen effizient durch den Turm
pumpen. Für Büros bleibt dennoch immer weniger Fläche übrig. Irgendwo müssen
ja auch noch die Notstromgeneratoren hin, das Sprinklerwasser und die
Zufluchtsräume für den Feuerfall. Kurzum: Von einer gewissen Höhe an wird so
ein Riesenbau unrentabel. Man muss ihn sich leisten wollen.

"Ich persönlich würde niemandem empfehlen, sehr hoch zu bauen", sagt Wang.
"Aber wir wollen eben weltweit die Nummer eins sein."

So geht das Rennen himmelwärts immer weiter; und auch die Verfolger ruhen
nicht - zumindest was kühne Pläne betrifft. Ausgerechnet in New York hat
sich das gerade gezeigt: Vier von sieben Entwürfen für die Unglücksstätte
Ground Zero, darunter der soeben gekürte von dem Berliner Architekten Daniel
Libeskind, sahen Gebäude über 500 Meter Höhe vor.

Im wirklichen Leben jedoch bleiben viele Fragen offen: Soll man überhaupt
noch so hoch bauen? Wagt sich ein Besucher oder Mieter in die obersten
Etagen? Werden die Versicherungen unbezahlbare Aufschläge verlangen? Ist
deshalb vielleicht schon "die Zeit der großen Wolkenkratzer vorüber", wie
Walter Kielholz argwöhnt, Vorstandsmitglied des Schweizer Rückversicherers
Swiss Re?

Um die zahllosen Pläne für Rekordbauten, die seit Jahren kursieren, ist es
jedenfalls sehr still geworden. Die meisten Projekte sind vorerst
eingefroren - bis auf den Turm von Taipeh. "Soweit ich weiß", sagt Wang,
"sind wir zurzeit die einzigen in dieser Größenklasse, die tatsächlich
bauen."

Umso schärfer blickt die Welt nun auf das erste Riesenhochhaus nach der
Katastrophe. Das ist nicht ganz die Art von Prominenz, die sich die Erbauer
erhofft hatten. Zumal auch der bisherige Rekordhalter kein gutes Omen
abgibt: Die Petronas Towers in Kuala Lumpur, der Hauptstadt Malaysias,
standen lange Zeit großteils leer.

Die prachtvollen Zwillingstürme wurden in Angriff genommen, als in Kuala
Lumpur die Hochhäuser wie Pilze aus dem Boden schossen. 1996 wurden die
Türme fertig - pünktlich zum Beginn der großen Asien-Krise. Und das sind
beileibe nicht die ersten Rekordbauten, die zur denkbar falschen Zeit kamen.

Andrew Lawrence, ein Analytiker der Deutschen Bank, hat festgestellt: Das
ist auffallend häufig so. Wo auch immer ein neues höchstes Haus ausgerufen
wird, steht die Wirtschaft in der Regel vorm Kollaps. So war es in New York
um 1930, als kurz hintereinander das Chrysler Building und das Empire State
Building in die Höhe wuchsen - rechtzeitig zur großen Depression.

Danach herrschte vier Jahrzehnte lang Ruhe, bis in den frühen Siebzigern
neue Rekorde aufhorchen ließen: in New York das World Trade Center, in
Chicago der Sears Tower. Kurz darauf beendete die erste Ölkrise den
Nachkriegsboom, und es folgte die schwerste Flaute seit den dreißiger
Jahren.

Lawrence fand dieses Muster so oft, dass er daraus einen "Skyscraper Index"
erstellte. Demnach sind Höhenrekorde meist Ausgeburten von Spekulationswahn.
Überschießendes Kapital, das schon nicht mehr weiß wohin, verleitet die
Bauherren zu Prahlsucht - ein verlässliches Vorzeichen für das Ende eines
Booms.

In seinem Essay "Brauchen wir noch Wolkenkratzer?" bespöttelt der
renommierte US-Architekt William Mitchell einen besonders lustigen Fall von
Höhendünkel: die schicke Bar des Peninsula-Hotels in Hongkong. Der Designer
Philippe Starck hat dort die Urinale direkt vor die verglaste Fensterfront
gesetzt, "so dass mächtige Männer auf die Stadt niederblicken können,
während sie sich erleichtern".

Der "Skyscraper Index" ist allerdings nicht nur ein Barometer für
ökonomische Dekadenz. Er beansprucht auch Weissagekraft: Sieh nach, wer die
tollsten Hochhauspläne ausbrütet, und du weißt, wo die nächste Krise
ausbricht.

Gilt das auch für Taipeh? Es scheint so: Die Fertigstellung des Turms war
für 2002 geplant, und dieses Jahr, sagt der Bauunternehmer Hong-Ming Lin,
war das "schlimmste für Taiwan seit einem halben Jahrhundert".

Nun hoffen die Rekordjäger, dass die Verspätung sie in den nächsten
Aufschwung hinüberrettet. Und dass die Ängstlichkeit der Kundschaft sich in
der Zwischenzeit wieder legt.

Kein Mietrabatt für die oberen Stockwerke? "Im Gegenteil", sagt Lin. "Da
verlangen wir nach wie vor 20 Prozent mehr." Das Konsortium wettet darauf,
dass die Leute früher oder später doch wieder hoch hinaus wollen (auf jeden
Fall höher als die Konkurrenz).

Einiges spricht dafür: Die ursprüngliche Version des Hochhauses von Taipeh
war geplant als Dreiergruppe - in der Mitte der Hauptturm mit 66
Stockwerken, flankiert von zwei kleineren Gebäuden links und rechts. "Das
haben wir ganz schnell verworfen", sagt Lin. "Denn in die kleinen Türme
wollte niemand rein."


MANFRED DWORSCHAK


(http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,238500,00.html)
(spiegel-leser bauen höher)

____________________

Matthias Arnold M.A.
Digital Resources
Institute of Chinese Studies
University of Heidelberg
Akademiestr. 4-8
69117 Heidelberg
Germany

Phone: ++ 49 - (0) 62 21 - 54 76 75
Fax: ++ 49 - (0) 62 21 - 54 76 39

http://www.chinaresource.org
http://www.sino.uni-heidelberg.de

www.fluktor.de
www.zhaomo.de.vu